Erster deutscher Fußball-Popstar: Günter Netzer wird 75

Zürich – Er taucht ebenso unbemerkt auf wie damals auf dem Fußballplatz. Aber jetzt kommt Günter Netzer nicht aus der Tiefe des Raumes, er erreicht den vereinbarten Treffpunkt durch einen Nebeneingang.

Netzer läuft gemächlich, Knieprobleme, aber sein Blick ist wach. Er hat dieses Nobelhotel in Zürich ausgewählt, und der Portier erkennt ihn sofort. «Hallo, mein Freund», grüßt Netzer gut gelaunt. So spricht er fast jeden der Angestellten an, die Leute lächeln freundlich zurück, vielleicht auch ein wenig schüchtern. Sie schauen zu ihm auf, obwohl er etwas kleiner ist als einige von ihnen.

Wer die Größe eines Menschen messen will, sollte sich nicht auf ein Maßband beschränken. Man könnte stattdessen auch auf ein längst vergangenes Fußballspiel schauen: Düsseldorfer Rheinstadion, 23. Juni 1973, lange her, aber immer noch wahr. Gladbachs Star Günter Netzer sitzt nur auf der Ersatzbank, sein Wechsel zu Real Madrid steht kurz bevor. Beim Stand von 1:1 kurz vor Schluss hat er genug. «Ich spiel dann jetzt», ruft Netzer seinem Trainer Hennes Weisweiler noch zu. Dann wechselt er sich in der 91. Minute selbst ein, drei Minuten später erzielt er den Siegtreffer. Es war sein letztes Spiel für die Borussia.

Ein Rebell sei Netzer, ein Aufsässiger, schrieben die Medien nicht erst danach. Er trug lange Haare und schräge Klamotten, fuhr Ferrari und Jaguar, schon früh besaß er sogar eine eigene Diskothek, und dann waren da auch noch seine ständigen Reibereien mit Weisweiler. Netzer war in jeglicher Hinsicht anders als jeder andere deutsche Fußballspieler vor ihm, aber vor allem war er auch ein Genie. «Wenn ich bei all meinen Dingen, die ich gemacht habe, nicht den Ball getroffen hätte, die hätten mich hochkantig rausgeschmissen», erzählt er. «Die haben gesagt, der ist zwar verrückt, aber wenigstens trifft der den Ball.»

Jetzt sieht er ganz brav aus. Zum dunkelblauen Sakko trägt er ein Hemd in dezenter Farbe, die immer noch größtenteils dunkelblonden Haare sind wie immer akkurat gescheitelt. Netzer muss längst nicht mehr auffallen, es erkennt ihn sowieso jeder. Vom Garten des Hotels sieht man den Zürichsee, es weht ein kühler Wind herüber, daher lieber kein Gespräch mitten auf der Terrasse sondern im überdachten Bereich, «in diesem Ding da, dem Geschützten», wie Netzer sagt. Trotz der fast schon herbstlichen Temperaturen bestellt er sich erst mal ein Ginger Ale auf Eis, danach einen Kamillentee.

Am heutigen Samstag wird Günter Netzer 75 Jahre alt. Seit zwei Jahren ist er ohne berufliche Verpflichtungen, und er wird nie wieder welche eingehen. So war das schon immer bei ihm. Wenn Schluss war, war Schluss, und wann Schluss war, das hat er immer selber entschieden – und dann war es endgültig. Seine Karriere als Spieler ließ er mit Anfang 30 ausklingen. Als Manager des Hamburger SV prägte er zwischen 1978 und 1986 die erfolgreichsten Jahre des Clubs inklusive des Gewinns des Europapokals der Landesmeister, der heutigen Champions League.

Immer wieder wollten manche ihn vom Weitermachen überzeugen, immer wieder lehnte Netzer ab, wie auch nach dreizehn Jahren als TV-Experte in der ARD an der Seite von Moderator Gerhard Delling 2010. Er habe sich während seines Lebens immer wieder selbst beobachtet und kritisch überprüft, erzählt er: «Ich habe zu viele Menschen erlebt in zu vielen Genres, die man mit dem Lasso von der Bühne holen musste. Das ist mir, Gott sei Dank, in meinen Karrieren nie passiert.» Das bewahrte ihn vor allzu peinlichen Abgängen, die er zwar nie befürchtet, aber bei anderen Prominenten registriert hat.

Günter Netzer ist immer selbstbestimmt geblieben. Und auch wenn anfangs über sein Aussehen oder die Autos der Kopf geschüttelt wurde, trugen diese Dinge letztlich zu seinem eigenen Mythos bei – und füllten die Taschen. Neben Beckenbauer war Netzer zur damaligen Zeit der einzige Fußballer, der seine Karriere zu vermarkten wusste. «Sehr clever» sei Netzer gewesen, sagt sein ehemaliger Nationalmannschaftskollege Wolfgang Overath.

Heute ist er einer der wenigen großen Sportler, denen es gelungen ist, ohne große Dellen durchs Leben zu kommen, obwohl er nie aus der Öffentlichkeit abgetaucht ist. Er trug nie einen Fliegenklatschenhut wie Boris Becker oder landete in Polizeigewahrsam wie Michel Platini. Er machte sich aber auch nie so rar wie Steffi Graf. Stattdessen gewann Netzer als TV-Experte 2000 zusammen mit Delling sogar den Grimme-Preis.

«Ich habe sicherlich Wortschöpfungen geprägt», sagt er. «Es gibt ein Wort, verwalten heißt das. Das habe ich dann irgendwann mal gebraucht bei einem Länderspiel gegen Irland. Ich weiß es noch ganz genau. Denn der Jupp Heynckes hat mir spontan geschrieben, wie toll er das fand, dieses Wort in die Fußballsprache übernommen zu haben.» Da habe es auch noch weitere Wörter gegeben. Er erzählt das nicht ganz unbescheiden, und natürlich ist sich Günter Netzer seiner eigenen Größe bewusst. Aber er besitzt die seltene wie angenehme Gabe, dass ihm solche Erzählungen nicht als Arroganz, sondern als Anekdote ausgelegt werden können.

«Entscheidend ist der Charakter», sagt Overath. «Egal, wie er sich gekleidet, welche Autos er gefahren oder was er alles erreicht hat: Er ist immer ein ganz feiner Mensch geblieben.» In der Nationalmannschaft waren die beiden Edeltechniker zu Beginn der 1970er Jahre die größten Rivalen. Aufgrund einer Verletzung Overaths prägte Netzer die erfolgreiche EM 1972 in Belgien, zwei Jahre später bei der ebenfalls erfolgreichen Heim-WM erhielt Overath dagegen wieder den Vorzug; Netzer spielte während des Turniers nur rund 20 Minuten und fühlt sich daher bis heute nicht als Weltmeister.

Er hat sich nie lange mit den kleinen Makeln seines Lebens beschäftigt. Er hat gelernt, zu akzeptieren, aber er konnte es sich auch erlauben. Er sei überaus dankbar für sein Leben, erzählt er. Sein Freund Delling, den er immer noch siezt, beschreibt ihn als «zuverlässig, auch reflektierend und in vielerlei Hinsicht mit einem guten Gespür».

Als die Teetasse leer und vieles erzählt ist, lehnt Netzer sich auf seiner Sitzbank zurück. Er will jetzt noch was essen und bestellt einen Salat mit Lachs und Crevetten, die aber möchte er nicht. «Bitte ohne die Kroketten», sagt er dem Kellner, und natürlich war dieser Versprecher Absicht. Er schmunzelt, und es kommt einem etwas in den Kopf, was er etwas früher im Gespräch gesagt hatte: «Eine gehörige Portion Unvernunft, die gehört zu meinem Leben.»


(dpa)

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