Frankreichs Déjà-vu – «Liberté, Égalité, Mbappé»

Paris – Frankreich schwelgt vor dem WM-Endspiel im süßen, hoffnungsvollen Gefühl eines Déjà-vu: Jubelszenen auf den Champs-Élysées nach dem Halbfinal-Sieg, die Begeisterung im ganzen Land.

Viele fühlen sich an den Sommer 1998 erinnert, als das französische Team die Heim-WM gewann. Es war das Sommermärchen der Franzosen – und 20 Jahre später wirkt es so, als sehne sich das in den vergangenen Jahren von Terror und politischer Zerrissenheit erschütterte Land inbrünstig nach einer Wiederholung dieser fröhlichen Leichtigkeit.

Inmitten des fahnenschwenkenden Fußball-Patriotismus wird hier und da auch ein Slogan von damals wieder aus der Schublade gezogen: «black, blanc, beur» – «Schwarz, Weiß, Arabisch». Dieser Dreiklang, angelehnt an das «Blau-Weiß-Rot» der französischen Fahne, feierte 1998 das multiethnische französische Team. Es war eine positive Erzählung von gelungener Integration und vereinter Stärke.

Mit Stars wie Kylian Mbappé, der seine Fußballer-Karriere in der Pariser Vorstadt Bondy begann, steht das französische Team auch diesmal für ein buntes Frankreich – und bietet Identifikationsfiguren für Jugendliche aus der sonst oft abgehängten Banlieue. «Das macht Frankreich schön», sagt Mittelfeldspieler Paul Pogba über diese Vielfalt. «Das Frankreich von heute hat viele Farben.»

«Liberté, Égalité, Mbappé», war während der WM mitunter zu lesen – eine Ableitung der Staatsdevise «Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit».

Aber viele Kommentatoren mahnen, dass man einen möglichen WM-Sieg nicht überinterpretieren solle. Die Erfahrung hat Frankreich auch gelehrt, dass der Taumel der Euphorie trügerisch sein kann. «Wir haben aus den Illusionen von 1998 abgeleitet, dass der populärste Sport Frankreichs den Geist des französischen Volkes nur schlecht widerspiegelt», kommentiert der Redaktionschef der linksliberalen «Libération», Laurent Joffrin. Wenige Jahre nach 1998 kam der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen in die Stichwahl ums Präsidentenamt, und 2005 brachen wochenlange Banlieue-Unruhen aus.

Und doch: Passt es nicht richtig gut ins Bild, dass Frankreichs Fußballer nun Richtung Titel stürmen? Ähnlich wie das vorzeitige Aus der DFB-Elf auf seltsame Art die politische und gesellschaftliche Angespanntheit in Deutschland zu reflektieren schien, lassen sich auch für Frankreich zumindest aus der Außenperspektive nur zu leicht Parallelen ziehen. Nach Jahren der Lähmung ist das Land seit der Wahl von Emmanuel Macron zum Staatschef wieder in Bewegung gekommen: «France is back» – «Frankreich ist zurück», wie der selbstbewusste Staatschef und seine Jünger gern predigen.

Der charismatische 40-Jährige hat Frankreich international wieder ins Rampenlicht gebracht und ein ehrgeiziges Reformprogramm angestoßen, über das deutsche Spitzenpolitiker sich geradezu euphorisch äußern. Dazu kommt: Die Wirtschaft in Frankreich wächst, die Arbeitslosenquote sinkt leicht, das Haushaltsdefizit ist erstmals seit Jahren im Rahmen der europäischen Vorgaben.

Doch diese Aufzählung ist nur ein Teil der Wahrheit, und die bei der Präsidentenwahl 2017 deutlich gewordenen gesellschaftlichen Gräben bestehen fort. Macrons Beliebtheitswerte sinken, die Mehrheit der Franzosen hält seine Politik für ungerecht. Und die Themen Identität und Einwanderung haben auch in Frankreich nicht an Brisanz verloren.

Die Regierung ist denn auch sichtlich bemüht, sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, den Fußball-Erfolg politisch auszuschlachten. «Wie es der Präsident mit viel Weisheit gesagt hat (…): Wir können nichts dafür, aber freuen wir uns», so Regierungssprecher Benjamin Griveaux.

Nach dem Halbfinale gab es kein Jubelfoto auf Macrons Twitteraccount, obwohl der Staatschef selbst auf der Tribüne in St. Petersburg saß. Er sei abergläubisch und gebe deshalb keine öffentlichen Prognosen zum Abschneiden der «Bleus» im Finale an diesem Sonntag ab, sagte er beim Nato-Gipfel in Brüssel. «Ein ganzes Land wird hinter ihnen stehen, mit viel Kraft, viel Begeisterung, (…) wahrscheinlich mit ein bisschen Fiebrigkeit.»

Bei der Heim-EM vor zwei Jahren war den Franzosen der ganz große Moment des kollektiven Jubels noch versagt geblieben, als das Team im Endspiel gegen Portugal scheiterte. «Man spürt eine große Eile, eine Dringlichkeit der Franzosen, das auszukosten», sagte der Philosophie-Dozent Gilles Vervisch dem Sender France 24 über die Stimmung im Land. Er erinnerte daran, dass bei den Pariser Terroranschlägen vom 13. November 2015 als Erstes eine Bombe neben dem Stade de France explodierte, wo das französische Team gerade gegen Deutschland spielte: Das spiele wahrscheinlich unbewusst eine Rolle.


(dpa)

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