Southgate: Von der Notlösung zum Hoffnungsträger

St. Petersburg (dpa) – In dieser Woche durfte sich Gareth Southgate über ein ungewöhnliches Lob freuen. Die britische Zeitung «Guardian» nannte den England-Trainer «eine nicht aufzuhaltende Stil-Ikone».

Der 47-Jährige habe beim 2:1-Auftaktsieg gegen Tunesien in seinem Dreiteiler erneut modisch an der Seitenlinie überzeugt. Gut möglich, dass Southgate der erste Coach der Three Lions ist, der ein solches Kompliment bekommt. Auch sportlich kommt er langsam in Mode.

Nach dem bestandenen WM-Härtetest und vor dem Spiel gegen Panama am Sonntag kann Southgate nun etwas ruhiger schlafen. Allerdings machte er schon vor dem Last-Minute-Erfolg den Eindruck, als könne ihn wenig aus der Ruhe bringen. «Selbst in den Stunden vor seinem ersten Spiel als Coach bei einer Weltmeisterschaft war Southgate gelassen und wirkte, als hätte er unser Schicksal voll unter Kontrolle», schrieb die Boulevard-Zeitung «The Sun» über ihn. Seine entspannt wirkende Art kommt an – und überträgt sich offenbar auf die Spieler.

Anfangs wurde der frühere U21-Coach auf der Insel noch skeptisch beäugt. Der ehemalige England-Profi und heutige TV-Experte Jamie Carragher war damals einer der Zweifler. «Als er zu Beginn der WM-Qualifikation verpflichtet wurde, hat das im Land nicht gerade für Zuversicht gesorgt», schrieb Carragher in seiner WM-Kolumne. «Aber alles, was Southgate in den zwei Jahren, in denen er England nach Russland geführt hat, gesagt und getan hat, war beeindruckend.» Auch die früheren Nationalspieler Frank Lampard und Steven Gerrard gehören zu den Southgate-Fürsprechern.

Als der sprichwörtliche letzte Strohhalm galt Southgate im November 2006. Es gab praktisch keine Alternative, nachdem die Amtszeiten seiner Vorgänger im Desaster geendet waren. Mit Roy Hodgson wird das peinliche EM-Aus 2016 gegen Island verbunden bleiben. Und dessen Nachfolger Sam Allardyce war nur für ein Spiel im Amt. Als bekannt wurde, dass er verdeckt recherchierenden Reportern Tipps zur Umgehung der FIFA-Transferregeln gegeben hatte, musste Allardyce gehen.

Southgate empfahl sich anschließend als Interimstrainer für den Chefposten. Im Gegensatz zu den beiden väterlichen Typen, dem 70-jährigen Hodgson und dem 63 Jahre alten Allardyce, wirkt er eher wie der ältere Bruder der Spieler. Doch anders als seine Vorgänger schreckt er vor unbequemen Entscheidungen nicht zurück. Carragher lobte, dass Southgate dabei «eine Härte gezeigt hat, die man hinter seinem öffentlichen Auftreten als netter Typ nicht erwartet.»

So traf Southgate vor der WM zwei umstrittene, aber letztlich wohl richtige Entscheidungen. Er setzte den englischen Rekordtorschützen und damaligen Kapitän Wayne Rooney vorübergehend auf die Bank und setzte damit ein Signal. Rooney trat später zurück. Zudem sortierte der Coach den langjährigen Stammtorwart Joe Hart aus und machte Jordan Pickford nach nur drei Länderspielen zur neuen Nummer eins. Der 24-jährige Pickford blieb im Auftaktspiel gegen Tunesien cool.

Southgate weiß, wie er seine Spieler motiviert. Seinen Topstürmer Harry Kane forderte er nach dessen Doppelpack gegen Tunesien auf, zu beweisen, dass er Weltklasse ist und zu den Großen gehört. Gegen Tunesien traf sein Kapitän auch deshalb zweimal, weil Southgate eine wichtige Kleinigkeit änderte: Er lässt die Ecken nicht mehr von Kane treten, wie es Hodgson gemacht hatte. Das zahlte sich aus. Das Siegtor in der Nachspielzeit erzielte Kane nach einer Ecke.

Für viele Experten ist England sportlich auf einem guten Weg, selbst wenn diese WM für das unerfahrene Team wohl ein bisschen zu früh kommt, um bis ins Finale vorzudringen. «Wir sind eine Mannschaft, die sich noch steigert und entwickelt», hatte Southgate schon vor dem ersten Spiel gesagt, «deshalb wird es immer Dinge geben, die wir noch besser machen können. Von Perfektion sind wir meilenweit entfernt.»

Der englische Fußballverband FA plant langfristig mit Southgate. Vermutlich bei der WM 2022 würden die FA-Bosse die Three Lions gern endlich wieder zu den Favoriten zählen. Ein gutes Turnier in Russland könnte dafür die Initialzündung sein. Und es ist auch maßgeblich dafür, ob Southgates Beliebtheit in England weiter steigt. Dessen ist sich der Trainer bewusst. «Wenn wir 1:1 gespielt hatten, wäre da eine gewisse Enttäuschung», sagte Gareth Southgate nach dem Sieg gegen Tunesien, «dann würde alles ein bisschen anders betrachtet werden.»

(dpa)