Günter Netzer: «Unvernunft, die gehört zu meinem Leben»

Zürich – Spieler, Manager oder TV-Experte: Während seiner außergewöhnlichen Fußballkarriere hat Günter Netzer jede seiner Rollen mit Erfolg bekleidet. Am 14. September wird er 75 Jahre alt.

Reiner Calmund wurde letztes Jahr 70 und hat mit über 200 Leuten in einem Freizeitpark gefeiert, planen Sie ähnlich groß?

Günter Netzer: (lacht) Was meinen Sie? Wie würden Sie mich einschätzen?

Etwas kleiner?

Netzer: Dramatisch kleiner! Das passt doch zu Calmund, zu dieser Frohnatur, dass er da so losgelegt hat. Das freut mich sehr, dass er gesund oder halbwegs gesund 70 geworden ist und das genießen kann. Das bedeutet ihm ganz viel und dann muss man das auch machen, um Gottes Willen! Mir käme es aber nicht in den Sinn, so etwas zu tun. Wenn überhaupt was passiert, dann in kleinstem Rahmen. Es kann durchaus sein, dass wir aufs Land fahren und es uns gemütlich machen.

Selbst Ihr Freund Gerhard Delling wird also nicht eingeladen?

Netzer: Da ist jetzt etwas eingetreten, das es mir erschwert, ihn weniger zu sehen. Er hat eine neue Partnerin, mit der wir schon seit längerer Zeit befreundet sind. So ist die Gefahr sehr groß, dass ich ihn jetzt sogar häufiger sehe als vorher.

Sie standen dreizehn Jahre mit Delling bei Länderspielen in der ARD vor der Kamera. Nicht erst dort entwickelten Sie sich in den Augen vieler Deutscher zur Kultfigur. Sehen Sie sich selbst so?

Netzer: Für mich bedeutet Kultfigur eine Ehrenbezeugung. Für mich heißt das: Der war nicht nur ein großartiger Fußballer, sondern der hat auch gewisse Dinge geschaffen oder riskiert in seinem Leben, die andere nicht geschafft haben. Von meiner Veranlagung oder meinem Charakter bin ich aber nicht so, dass ich sage: ‚Achtung, hier kommt eine Legende, kniet mal nieder!‘ (lacht)

Wie sieht denn Ihr Alltag momentan aus?

Netzer: Wir machen’s uns schön, wie die Schweizer sagen. Fazit ist immer wieder: Ich bin ein rundum zufriedener Mensch. Die Leute sagen: Der ruht in sich, der Netzer. Ja, das ist gut und das kann ich auch gerne übernehmen. Ich bin dankbar und privilegiert. Das war keine Selbstverständlichkeit, dieses Leben. Man trägt immer einen Teil dazu bei, aber es war auch verdammt viel Glück dabei.

Gehört der Fußball nach wie vor zu diesen schönen Dingen?

Netzer: Ich muss mir selbst eingestehen, dass dieses ganz große Interesse nicht mehr vorhanden ist. Das ist nicht mehr so wie früher. Aber das ist allzu normal, dass man das ganz langsam auslaufen lässt. Ohne ganz vom Fußball wegzukommen, das ist ausgeschlossen.

Neben dem Fußball begeisterten sie sich zumindest damals für extravaganten Klamotten. Wie kam das?

Netzer: Das war der Freundin zuzuschreiben, die mich so eingekleidet hat, aber ich habe dieses mitgemacht und ihren Wunsch erfüllt. Ich habe immer gesagt: Wenn ich bei all meinen Dingen, die ich gemacht habe, nicht den Ball getroffen hätte – die hätten mich hochkantig rausgeschmissen. So wurde gesagt: ‚Der ist zwar verrückt, aber wenigstens trifft der den Ball.‘

Es waren ja nicht nur die Klamotten, auch die langen Haare waren für einen Fußballer zur damaligen Zeit speziell.

Netzer: Auch das gehörte in diese Zeit, in der ich diese Freundin hatte in Mönchengladbach. Das mit der Frisur habe ich mitgemacht, weil ich mich ziemlich bescheuert aussehend fand mit kurzen Haaren. Für die damalige Zeit war das schon eine Nummer, die Leute sagten sich ja: ‚Wie der aussieht, um Himmels Willen!‘

Und dann kamen auch noch Ihre flotten Autos hinzu.

Netzer: Damals war es ein Statussymbol, ein schönes Auto zu fahren. Man hat gezeigt, dass man sich das leisten kann, man kam aus einer anderen Schicht und so weiter. Bei mir hat das nie eine Rolle gespielt. Ich habe gesagt, dass ich als junger Mann solche Autos fahren will, so dass ich sie noch so fahren kann, wie sie gefahren werden müssen. Weil die Schönheit und die Schnelligkeit haben mich fasziniert. Nur das war es. Das war unvernünftig, aber das ist etwas, was mein ganzes Leben durchzogen hat: Eine gehörige Portion Unvernunft, die gehört zu meinem Leben.

Gibt es da nicht auch diese Geschichte, wie Sie Franz Beckenbauer mal einen Jaguar angedreht haben?

Netzer: Och, eine Unverschämtheit. Diese Ignoranten, alle beide, der Beckenbauer und der Overath! Aber Sie kennen die Geschichte, oder?

Nicht im Detail, erzählen Sie bitte.

Netzer: Ich war immer Autofan und hatte damals einen Jaguar E, das ist ein wunderschönes Auto. Eines Tages kam er bei einem Lehrgang der Nationalmannschaft zu mir und fragte: ‚Willst du mir nicht dein Auto verkaufen?‘ Da sag ich: ‚Du und der Jaguar E? Das passt doch gar nicht, du bist doch eher ein Mercedes- oder ein BMW-Fahrer.‘

Wer kam zu Ihnen? Beckenbauer oder Overath?

Netzer: Beckenbauer. Übrigens ein guter Fahrer, der Beckenbauer, ein sehr guter Fahrer. Er wollte den Jaguar tatsächlich haben. Also habe ich das Auto nochmal in Schuss gebracht und ihm sogar bis nach München vor die Tür gefahren. Zwei Tage später krieg‘ ich einen Anruf von ihm: ‚Du bist ein Betrüger! Du hast mir ein Auto angedreht, das ist nicht fahrbar. Da regnet’s rein und die Bremsen funktionieren auch nicht!‘ Dabei waren die englischen Autos einfach nicht so leicht zu händeln damals. Er hat dann erstaunlicherweise den Overath gefunden, der ihm das Auto zum selben Preis abkaufen wollte. Und was hat der Overath dann gemacht? Der hat es lila angestrichen, dieses wunderschöne Auto! Da dachte ich nur: Diese Ignoranten verdienen es gar nicht, dass du dich mit denen beschäftigst. Jedenfalls stand dann nachher im Fahrzeugbrief: Netzer, Beckenbauer, Overath. Das war natürlich auch eine Nummer.

Rebell war so ein anders Wort, was in Zusammenhang mit Ihnen benutzt wurde. Haben Sie gegen irgendetwas protestiert?

Netzer: Ach was. Meine Rebellion bezog sich nur darauf, dass ich mit meinem Trainer Hennes Weisweiler Krach gehabt habe. Der wollte das anders als ich, der wollte anders Fußball spielen als ich. Aber ich stand auf dem Feld und wusste, dass wir das nicht machen können, was er wollte. Der wollte immer nur rauf und runter, rauf und runter. Und nach 70 Minuten waren wir kaputt und die anderen haben gewonnen. Da habe ich mit ihm natürlich Auseinandersetzungen gehabt. Ich habe dann mit einigen anderen darauf gedrängt, dass wir die Abwehr verstärken. Da hat er das gemacht, der Weisweiler, und in dem Jahr wurden wir dann gleich deutscher Meister.

Aber Sie haben Weisweiler auch viel zu verdanken, oder?

Netzer: Ich habe ihm alles zu verdanken. Er hat Borussia Mönchengladbach gemacht, und er hat mich gemacht.

Was glauben Sie, wie sich das Leben eines Profifußballers verändert hat?

Netzer: Außerhalb des Fußballs müssen die keine Geschäftsidee mehr haben. Die sind so gesegnet mit der augenblicklichen Situation des Fußballs, dass so viel Geld akquiriert werden kann, dass die Fußballspieler davon so gut leben wie nie. Die Situation des Fußballs war noch nie so gut wie jetzt. Die Spieler müssen eigentlich ihr Glück nicht fassen können. Ich gönne es ihnen. Wir haben unsere Zeit gehabt und die war wunderschön.

Was wünschen Sie sich noch?

Netzer: Nichts, um Gottes Willen! Ich sage es nochmal: Ich bin privilegiert, dankbar, demütig, dass es so gegangen ist. Ich habe ein paar gesundheitliche Rückschlage gehabt, aber wunderbar verarbeitet. Ich bin überaus dankbar für das, was mir da segensreicherweise passiert ist.

ZUR PERSON: Günter Netzer (74) war einer der besten Mittelfeldspieler, die Deutschland je hatte. Darüber hinaus war er erfolgreicher Manager beim Hamburger SV, TV-Experte und Unternehmer. Und er fiel früh auf: Durch extravagante Klamotten, schnelle Autos und eine Frisur, die er in ähnlicher Form noch heute hat.


(dpa)

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