Kritik am EM-Niveau – Zwischenbilanz von Silvia Neid

Sint-Michielsgestel – Seit Jahren ist eine stetige Aufwärtsentwicklung im internationalen Frauenfußball zu beobachten. Die Spielerinnen sind athletischer geworden, technisch und taktisch haben auch die sogenannten kleinen Fußball-Nationen aufgeholt.

Die Internationalen Verbände FIFA (Weltverband) und UEFA (Europäische Fußball-Union) fördern die Frauen und tragen dem rasanten Aufschwung Rechnung, indem sie die Teilnehmerfelder bei Welt- und Europameisterschaften ständig erweitern. Die TV-Quoten steigen so rasch wie die Sympathiewerte der Protagonisten. So weit, so gut!

Doch nun droht erstmals seit Jahren eine Stagnation. Bei den Spielen der Europameisterschaft in den Niederlanden treten auch Entwicklungen zu Tage, die der Attraktivität des Frauenfußballs abträglich sind. Mit deutlichen Worten warnt die ehemalige Bundestrainerin Silvia Neid im exklusiven Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur vor negativen Tendenzen und unerwünschten Auswüchsen.

«Ich sehe keine Weiterentwicklung. Viele Mannschaften bei der EM versuchen nur noch, das konstruktive Spiel der Gegner zu zerstören», analysierte Neid. «Und das Schlimme ist, dass sie das auch schaffen, weil bessere Teams technisch nicht in der Lage sind, sich mit ihrem Offensivspiel durchzusetzen.» Derselbe Trend zum Defensivfußball sei schon bei der Männer-EM 2016 in Frankreich zu beobachten gewesen.

Die dreimalige FIFA-Welttrainerin (2010, 2013, 2016) muss es wissen. Neid war als Spielerin (111 Länderspiele), Assistentin von Tina Theune-Meyer (1996-2005) und als DFB-Cheftrainerin (2005-2016) an allen Erfolgen der DFB-Frauen beteiligt. Nachdem Neid im Vorjahr ihre einmalige Karriere als Bundestrainerin mit dem Olympiasieg in Rio gekrönt hatte, übergab sie das Zepter an ihre ehemalige Spielerin und Co-Trainerin Steffi Jones.

In den allgemeinen Jubelchor über die ach so positive Entwicklung im Frauenfußball mag die 53 Jahre alte Expertin nicht einstimmen. «Unser Sport lebt von Leidenschaft, Kreativität und Offensivgeist. Was nicht nur deutsche Mannschaften immer ausgezeichnet hat, ist, dass man nach einem 2:0 auch noch das dritte und vierte Tor schießen will. Das gibt es hier nicht», sagt Neid, die in offizieller EM-Mission unterwegs ist.

Nach Olympia übernahm sie im DFB die Leitung der neu geschaffenen Scouting-Abteilung, um Entwicklungen und Trends im weltweiten Frauenfußball zu erkennen. Mit Nachwuchscoach Anouschka Bernhard, Fußball-Lehrer Michael Müller und der langjährigen Assistentin Ulrike Ballweg analysiert sie alle 31 EM-Partien. «Wir wollen den Fußball weiterentwickeln und schauen, wo wir in der Trainerausbildung, Talentförderung oder den Rahmenbedingungen womöglich Korrekturen vornehmen müssen.»

Neid räumt ein, dass alle Nationen vor allem hinsichtlich Athletik und Physis besser geworden seien. Von der Qualität der Partien und dem allgemeinen Niveau der EM ist sie aber enttäuscht. «Es gibt viele schlechte Torabschlüsse, unpräzise Pässe, Fehler im Spielaufbau, lange Bälle, wenig Flügelspiel oder schnelles Vertikalspiel. Das hat mit individueller Qualität und technischen Fertigkeiten zu tun», bilanziert sie nach 24 Vorrundenpartien. Neid hegt aber auch Hoffnung: «Vielleicht sehen wir in der K.o.-Runde bessere Spiele.»

Mit ihrer Kritik steht sie nicht allein. Ihr Kollege Even Pellerud, der für fast alle großen Erfolge Norwegens mitverantwortlich war, sieht es ähnlich. «Nur mit Freude, Freude, Eierkuchen ist es eben nicht getan», beklagt der 64-jährige Pellerud enttäuscht. Norwegen – Ex-Weltmeister, zweimaliger Europameister und Olympiasieger – verabschiedete sich sang- und klaglos ohne Tor und Punkt aus dem Turnier. Auch die Mitfavoriten Schweden und Frankreich präsentieren sich schwach.

Jones kann diese Kritik zum Teil nachvollziehen. «Das Feld ist zwar dichter beisammen, aber viele setzten auf Kompaktheit und Konter. England ist die einzige Mannschaft, die bisher durchmarschierte.» Zu den wenigen positiven Überraschungen gehören die Newcomer aus Belgien und Österreich sowie der bisher von den Fans getragenen EM-Gastgeberinnen.


(dpa)

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