Selbstanklage und Tatkraft: Löw knickt nicht ein

München – Joachim Löw bekannte sich erst mit großer Demut schuldig für das WM-Debakel, aber die Bewährung als Bundestrainer will er mit großer Tatkraft und auf seine Art nutzen.

«Wir knicken deswegen nicht ein», sagte der entzauberte Weltmeistercoach in der mit 108 Minuten längsten Pressekonferenz in der Geschichte der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Es gehe ihm «gut», versicherte der 58-Jährige auf die Frage nach seiner aktuellen Gemütsverfassung. «Oder erwecke ich einen anderen Eindruck?», sagte Löw irritiert. Nein, er wirkt nicht ausgebrannt und schon gar nicht verunsichert. Löw traut sich zu, das Nationalteam wieder titelfähig zu machen: «Ich freue mich, wenn es endlich wieder losgeht.»

In der Münchner Allianz Arena, wo Löw am 6. September beim Neustart des tief gestürzten DFB-Teams gegen Weltmeister Frankreich gleich «ein klares Zeichen» setzen will, klang in der WM-Analyse des Cheftrainers sehr viel Selbstkritik an, aber auch eine deutliche Botschaft: Löw bleibt Löw, eine Verwandlung oder totale Kurskorrektur wird es mit ihm und bei ihm nicht geben.

Das verdeutlichte er mit dem Spielerpersonal, mit dem er den Neuanfang in der Nations League gegen die starken Franzosen sowie drei Tage später in Sinsheim den Test gegen Peru angeht. Noch 17 WM-Teilnehmer stehen angeführt von Kapitän Manuel Neuer im 23-Mann-Aufgebot. Als prominenter Ex-Weltmeister wurde nach dem Paukenschlag-Rücktritt von Mesut Özil lediglich Ü-30-Mann Sami Khedira aussortiert. «Ich möchte Platz und Raum schaffen für die eine oder andere Änderung», sagte Löw.

Die Talente Kai Havertz (Bayer Leverkusen), Thilo Kehrer (Paris Saint-Germain) und Nico Schulz (1899 Hoffenheim) nominierte Löw erstmals. Und die in der WM-Vorbereitung gestrichenen Leroy Sané (Manchester City), Nils Petersen (Freiburg) und Jonathan Tah (Leverkusen) kehren zurück. Für Mario Götze bleibt die Tür vorerst zu. Zudem wird Co-Trainer Thomas Schneider zum Scouting versetzt, Chefscout Urs Siegenthaler rückt weg vom Team.

«Wir müssen den richtigen Mix finden zwischen Erfahrung und jungen, dynamischen, hungrigen Spielern», betonte Löw. Die Achse der 2014-Weltmeister von Neuer über Boateng, Hummels bis hin zu Kroos und Müller sei auch weiterhin wichtig. «Ich traue unseren Weltmeistern zu, dass sie ihre gewohnte Leistung abrufen – absolut!»

Löw sieht aber nicht nur sich selbst und Teammanager Oliver Bierhoff («Ich werde wieder mehr einfordern») in der Pflicht, sondern gerade auch die Mannschaft. «Alle spüren eine Jetzt-erst-recht-Stimmung in sich und wollen das Scheitern ausmerzen.» Frankreich komme gerade recht. «Für uns ist das ein super, top Auftaktgegner», sagte Löw.

Er hielt eine bemerkenswerte Selbstanklage. «Meine allergrößte Fehleinschätzung war, dass wir mit Ballbesitzfußball durch die WM-Vorrunde kommen. Das war fast schon arrogant. Ich wollte das auf die Spitze treiben und es noch mehr perfektionieren», gestand er.

Aus seiner tiefgehenden WM-Analyse zieht er zwei zentrale Schlüsse für eine positive Zukunft Richtung EM 2020: «Wir müssen unsere Spielweise adaptieren, wieder eine Ausgewogenheit finden im Spiel.» Allerdings werde eine von ihm trainierte Mannschaft «niemals ausschließlich defensiv spielen». Er bleibe seinen Visionen treu.

Zudem müssten Feuer und Leidenschaft im Nationalteam neu entfacht werden. «Wir haben es in Russland nicht geschafft, dass das Feuer eine riesige Flamme wird», gestand er. Sein Umgang mit den Spielern und deren Führung werde aber weiterhin im Dialog geschehen. «Das war immer mein Weg.» Aus dem netten Jogi wird kein Diktator.

Darum ist der Bundestrainer auch persönlich schwer enttäuscht von Mesut Özil. Sein Lieblingsschüler reagierte nach seinem krachenden DFB-Rücktritt und Rassismusvorwürfen im Zuge der Erdogan-Affäre nicht auf Löws Versuche der Kontaktaufnahme via Telefon und SMS. Vor und während der WM habe die Sportliche Leitung das Thema «absolut unterschätzt», räumte Löw ein. «Dieses Thema hat Kraft gekostet, dieses Thema war nervenaufreibend, weil es immer wieder da war.»

Bierhoff gab zu: «Dass der Rücktritt so vollzogen wurde, schmerzt uns alle.» Der DFB-Direktor äußerte zudem deutlich: «Ein Nationalspieler kann kein Ziel für rassistische Angriffe sein.» Grüppchenbildung und unüberbrückbare Differenzen in der Mannschaft wiesen Löw und Bierhoff ausdrücklich zurück. Der Teammanager sprach in seiner Analyse dafür von einem «selbstgefälligen Auftreten» gegenüber den Fans. Bei der Pressekonferenz fehlte auf der Sponsorenwand der von DFB-Präsident Reinhard Grindel gebrandmarkte Kunstbegriff «Die Mannschaft».

Bierhoff kündigte öffentliche Trainings der Nationalelf in Berlin vor den Oktober-Länderspielen sowie im November in Leipzig vor dem Test gegen Russland an. Das Ziel sei, neue «Nähe» zum Fan zu schaffen. Er will in seinem Verantwortungsbereich wichtige Impulse setzen, «damit wir bei der EM 2020 vielleicht wieder zu den Favoriten zählen».

Löw weiß ganz genau, dass er schon in der neuen Nations League, «die wir sehr ernst nehmen», unbedingt Ergebnisse liefern muss. «Wir stehen alle unter besonderer Beobachtung und einem großen Druck.»

Schließlich bezeichnete Bayern-Präsident Uli Hoeneß die WM aktuell noch einmal als «Alarmzeichen». Hoeneß fordert eine veränderte Haltung der Spieler auf dem Platz: «Das Allerwichtigste ist aus meiner Sicht, dass die Mannschaft wieder mehr arbeitet und mehr kämpft und sich nicht so in ihr Schicksal ergibt, wie das in Russland der Fall war.» Seinem Vereine komme dabei eine Schlüsselrolle zu. «Die Nationalmannschaft wird nur dann wieder gut, wenn der FC Bayern gut ist. Und daran müssen wir arbeiten», tönte Hoeneß.

Sieben Bayern-Profis stehen in Löws Kader. Die Münchner Akteure reagierten am Rande des Abschiedsspiels von Bastian Schweinsteiger recht dünnhäutig auf das Thema Nationalmannschaft und angebliche Teamkonflikte. «Wir tun gut daran, wieder ein bisschen mehr Vernunft reinzukriegen in das Thema», sagte Thomas Müller.

DAS AUFGEBOT DER DEUTSCHEN FUßBALL-NATIONALMANNSCHAFT:

Tor: Manuel Neuer (Bayern München), Marc-André ter Stegen (FC Barcelona)

Abwehr: Jérôme Boateng (Bayern München), Matthias Ginter (Borussia Mönchengladbach), Mats Hummels (Bayern München), Joshua Kimmich (Bayern München), Antonio Rüdiger (FC Chelsea), Niklas Süle (Bayern München), Jonathan Tah (Bayer Leverkusen), Jonas Hector (1. FC Köln), Thilo Kehrer (Paris Saint-Germain), Nico Schulz (1899 Hoffenheim)

Mittelfeld/Angriff: Julian Brandt (Bayer Leverkusen), Julian Draxler (Paris Saint-Germain), Ilkay Gündogan (Manchester City), Toni Kroos (Real Madrid), Leroy Sané (Manchester City), Timo Werner (RB Leipzig), Thomas Müller (Bayern München), Leon Goretzka (Bayern München), Marco Reus (Borussia Dortmund), Nils Petersen (SC Freiburg), Kai Havertz (Bayer Leverkusen)


(dpa)

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