Karlsruhe – Das Schlimmste waren letztens die gemeinsamen Ferien. Die beiden Töchter von Marion Brandt, schon lange auf Konfrontationskurs mit Stiefvater Alfred, waren zwar einverstanden gewesen mit dem gemeinsamen Urlaub am Gardasee.
Aber reden wollten sie mit Alfred nicht, blieben motzig auf ihren Zimmern. Keinen Bock auf den Mann, der ihnen kurz vor Weihnachten wie immer die Nikolausstiefelchen befüllt, ihnen jahrelang die Geburtstagsgirlanden aufgehängt und die Möbel zusammengebaut hatte.
«Ich wollte, dass sie ihn gerne haben und achten», sagt Brandt. Stattdessen liegen Jahre hinter der zusammengewürfelten Familie, die schwierig bis unerträglich waren. Warum nur? An gutem Willen mangelte es dem Paar nicht. Doch die sogenannten Stief- oder
Patchworkfamilienbergen ein erhebliches Konfliktpotenzial.
Hohes Trennungsrisiko
«Ich weiß aus Untersuchungen mit kanadischen Daten, dass die Familien ein sehr hohes Trennungsrisiko haben und oft nicht halten», sagt Valerie Heintz-Martin, die am Deutschen Jugendinstitut (DJI) zu diesem Thema forscht. «Für Deutschland dürfte das nicht soviel anders sein.» Manche Experten sprechen sogar von einem mehr als 50-prozentigen Trennungsrisiko. Auch bei den Brandts war das Scheitern greifbar. Türenknallen, Augenrollen, schmallippiges Abblitzenlassen des Stiefvaters – die Töchter waren schwer genervt und das Paar hatte die Schnauze zeitweise gestrichen voll.
Familientherapeuten wie Christiane Watzel können davon ein Lied singen. «Die Paare, die kommen, sind verzweifelt», sagt Watzel. «Sie stehen direkt vor der Wand und wissen nicht mehr weiter. Sie haben sich das alles so toll vorgestellt und wenn das mit den Kindern dann schief läuft, dann sind das maximale Verletzungen, das tut sehr weh.» Dreiviertel des Angebots in ihrer Praxis sind Paarberatungen. Und 50 Prozent davon befinden sich in Stieffamilienkonstellationen, erzählt sie. «Es ist die Familienform des 21. Jahrhunderts.»
Offener Hass in Stieffamilien
Bundesweite Zahlen dazu gibt es laut Bundesfamilienministerium nicht. Etwa 10 bis 14 Prozent der Familien in Deutschland dürften laut einer Ministeriumssprecherin Stief- oder Patchworkfamilien sein. Aktuell werde gerade der 9. Familienbericht erarbeitet, der sich auch «mit der Vielfalt von Familienformen» beschäftige, heißt es dazu. «Wegen der dürftigen Datenlage konnte das Thema lange Zeit nicht so intensiv beforscht werden», bedauert Familienexpertin Heintz-Martin vom DJI.
Dabei sind die Probleme enorm. Wer sich im Netz in den Foren bewegt, in denen Betroffene Dampf ablassen, erschrickt. «Ich komm‘ mit meiner Stieftochter nicht klar», das sind noch die freundlicheren Worte, die Stiefeltern dort finden. Aber auch Schimpfwörter wie «Teufelskind», «Störenfried» oder «Balg» fallen. Die Kinder kontern gerne mit kränkenden Bemerkungen wie «Du hast mir gar nichts zu sagen», «Hau‘ ab», «Dumme Kuh». «Fettsack» sei er von seinen Stiefsöhnen genannt worden, erzählt ein Betroffener, der seinen Namen nicht nennen will.
Stefanie Frick, die die Beratungsstelle Ambulante Hilfen Esslingen leitet, wundert da gar nichts mehr. Die Stieffamilie sei oft ein Schlachtfeld enttäuschter Liebe, von Demütigung und Ablehnung, erzählt sie. Opfer seien alle Beteiligten: «Heile sollte es wieder werden. Aber heile wird es halt nie mehr wieder.» Das müsse man sich klarmachen und die Erwartungen auf ein realistisches Niveau herunterschrauben. «Es ist wichtig für die Stiefeltern und Stiefkinder, dass sie nicht so tun müssen, als müssten sie sich lieben. Dass man auch mal sagen darf, wie blöd man sich gegenseitig findet. Das nimmt ganz viel Druck.» Dann könnten Stieffamilien auch gelingen.
Hilfe durch Beratungsstellen
Sie rät jedem, sich frühzeitig Hilfe zu suchen. «Die meisten kommen erst, wenn sie extrem unter Druck stehen», weiß sie. Dass der Bedarf da ist, zeigen die Zahlen bei der Beratungsstelle: «Inzwischen macht die Beratung von Stief- und Patchworkfamilien ein Drittel aller 250 Beratungen jährlich aus.» Und es werden immer mehr.
Die Kinder sind dabei nicht «böse» in ihrem Verhalten, darauf legt Watzel wert. «Sie haben ja schon genug verloren und das ist ihre Reaktion darauf», erklärt sie. Und Stiefeltern sollten sich tunlichst aus der Erziehung heraushalten. Bis nicht mehr jeder Streit eskaliert und jeder seinen Platz in der «neuen» Familie gefunden hat, dauert es Studien zufolge fünf bis sieben Jahre.
Trotz der vielen Betroffenen ist das Thema immer noch nicht so richtig in der Öffentlichkeit angekommen und auch an Hilfsangeboten fehlt es aus Sicht etwa von Frick.
Yvonne Woloschyn aus Brandenburg, selbst Patchworkmutter, hat im November deshalb im Netz kurzerhand den ihren Angaben zufolge ersten Online-Patchwork-Familienkongress organisiert, Motto: «Vom Drama zur Harmonie». Die Resonanz war groß, «mit rund 1500 Anmeldungen und einem durchweg positiven Feedback», erzählt sie.
Wie wichtig es ist, mit den ganzen Problemen der Stieffamilien wahrgenommen zu werden, das hat auch Marion Brandt schmerzlich erfahren. Jahrelang sei sie zwischen Loyalität zum neuen Partner, Fairness gegenüber dem biologischen Vater und dem eigenen schlechten Gewissen gegenüber allen Beteiligten herumgeirrt. Froh sei sie, dass sie endlich mal erzählen könne, was das bedeutete. «Es hatte mich ja bisher kein Mensch danach gefragt.»
(dpa)