Biografie eines Besessenen: Spurensuche bei Thomas Tuchel

Paris – Kurz vor dem Anpfiff schaltet Thomas Tuchel in der Kabine das Licht aus, von der Leinwand spricht nur noch Al Pacino.

Vier Minuten und 20 Sekunden lang peitscht der Hollywoodstar als Footballtrainer Tony D’Amato in «An jedem verdammten Sonntag» sein Team ein. Mit Sätzen wie «Entweder bestehen wir jetzt als ein Team, oder wir werden untergehen als Einzelgänger» gehen die Fußballer des FSV Mainz 05 auf den Platz – und hauen den FC Bayern weg. Es ist eine schöne Szene aus der Biografie über den meist unnahbaren Trainer Tuchel, die am Freitag im Verlag Die Werkstatt erscheint.

Eine Spurensuche bei Tuchel verläuft inzwischen immer öfter im Sande. Zu seinen Mainzer Zeiten (2008 bis 2014) erklärte der heutige Star-Coach von Paris Saint-Germain Journalisten noch jede Woche ausführlich «seinen Fußball». Leidenschaftlich, ja besessen, oft missionarisch. Bei Borussia Dortmund (2015 bis 2017) dann gerieten Einzel-Interviews mit Tuchel zur Rarität. Seit der 46-Jährige bei PSG auf der Bank sitzt, äußert er sich praktisch nur noch in Pressekonferenzen vor und nach Spielen. Der Mann, ohnehin schon eine Reizfigur im Profigeschäft, gerät allmählich zum Mysterium.

Auch den Autoren Tobias Schächter und Daniel Meuren ist es nicht gelungen, für ihr 192-Seiten-Werk den Taktiktüftler selbst zu befragen. «Tuchel wird in vielen Facetten ein Rätsel für seine Beobachter, weil er sich umso mehr aus der Öffentlichkeit zurückzieht, je prominenter seine Arbeitsplätze und er selbst werden», bilanzieren sie. «Zudem hinterlässt er an jedem Ort seines Wirkens auch zwiespältige und negative Gefühle bei denen, mit denen er zusammengearbeitet hat.»

So zeichnen die beiden Sportredakteure, schon damals in Mainz Chronisten Tuchels, seinen Weg akribisch nach – mit Aussagen zahlreicher Wegbegleiter wie Julian Nagelsmann, Roman Weidenfeller, Niko Bungert, Alois Schwarz und seines Entdeckers Hansi Kleitsch. Es ist – trotz Tuchels faszinierenden Talents und beharrlichen Erfolgstrebens – keine Smart-Story wie so oft in Sportler-Biografien. «In Mainz entwickelt er bereits jene Charakterzüge in seiner Mannschaftsführung, die vor allem in Dortmund zu Problemen führen werden: Tuchel wird ungeduldig, bisweilen cholerisch, er ist unnachgiebig und nachtragend», heißt es.

Tuchel spaltet. Ein Eigenbrötler, der anerkannt, aber nicht geliebt wird. Der ausgebootete Mainzer Ex-Keeper Heinz Müller bezeichnete ihn mal als «Diktator». Aber alle sind sich einig: Tuchel ist ein unfassbar guter Trainer – was das Fußballerische angeht. «Wir haben manche Dinge 100-mal durchgespielt, und es war jedem klar, wer wo zu stehen oder wie zu laufen hat. Die restlichen zehn Prozent waren Details, die uns geholfen haben, die Schwächen des Gegners auszunutzen», erklärt FSV- Abwehrspieler Bungert.

Aber es tritt auch der liebenswerte Tuchel zu Tage. Der mit seinen Spielern Siege feiert und der in seinen Sabbatjahren nach seinem Engagement in Mainz und in Dortmund seinen Horizont nach allen Richtungen erweitert. Und über den der Mainzer Ex-Manager Christian Heidel sagt: «Thomas trägt tief in sich bei allem Selbstbewusstsein, das manchmal gar arrogant wirkt, eine große Bescheidenheit, bei aller Impulsivität auch eine demütige, respektvolle Haltung.»

Der heutige Leipziger Bundesliga-Coach Nagelsmann ist nach Tuchel und Jürgen Klopp das derzeit größte deutsche Versprechen auf dem Trainermarkt. Er arbeitete Tuchel 2008 beim FC Augsburg II zu. «Nachdem ich ein paar Mal die Gegner gescoutet hatte, sagte Thomas zu mir, ich solle doch Trainer werden, wenn ich nicht mehr spielen könne. Er glaube, dass ich talentiert sei dafür durch die Art und Weise, wie ich ticke und wie ich spreche», erzählt Nagelsmann in dem Buch. «Ich hatte nie im Sinn, Trainer zu werden. Und ja, man kann schon sagen: Thomas hat mich konkret darauf gebracht.» Tuchel sei eben ein Trainertyp, der «supergut ankommt oder gar nicht».

Das Kapitel über Tuchels Zeit in Dortmund ist überschrieben mit «Aufprall auf die Gelbe Wand». «Sportlich gesehen ist Tuchel unantastbar. Sein Training war ausgezeichnet, er hatte stets Visionen. Nur zwischenmenschlich hat es an manchen Stellen nicht gepasst», sagt der ehemalige BVB-Torhüter Weidenfeller. In Erinnerung bleiben vor allem das 1:5 in München, das 3:4 in Liverpool, ein DFB-Pokalsieg – und vor allem der Sprengstoffanschlag auf den Mannschaftsbus 2017 und die Zerwürfnisse mit der Chefetage.

Seit Tuchel 2018 in Paris anheuerte, ist er für den deutschen Fußball – nicht nur geografisch – noch weiter entrückt. Der gebürtige Krumbacher entzieht sich dem Hype mittlerweile in einer Perfektion, die seiner Arbeit ähnelt. «Guardiola macht eine Pressekonferenz vor dem Spiel und eine nach dem Spiel. Sonst nichts», sagte er mal.


(dpa)

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