Russlands «Doping-Verschwörung»: Fakten und Vorwürfe

London – Der neue WADA-Report erhärtet die massiven Vorwürfe gegen Russland. Nach Ermittlungen der Welt-Anti-Doping-Agentur hat Moskau über alle Behörden und Institutionen hinweg den Sportbetrug unterstützt und sogar gefördert.

Die große Frage ist jetzt, welche Konsequenzen das hat – und inwiefern womöglich sogar Russlands Start bei den Olympischen Winterspielen 2018 gefährdet ist.

Welche wesentlichen neuen Fakten beinhaltet der Report?

Dass die WADA Russland staatlich organisiertes Doping vorwirft, ist bereits seit dem Sommer bekannt. Wenige Wochen vor den Olympischen Spielen in Rio hatte Chefermittler Richard McLaren am 18. Juli erste Ermittlungsergebnisse vorgestellt und damals bereits schwere Vorwürfe erhoben. Im zweiten Report untermauern die Experten ihre Anschuldigungen nicht nur, sondern heben sie auf eine neue Ebene. 1000 Athleten aus diversen Sportarten sollen Teil des Systems gewesen sein. Sie hätten mit Offiziellen im Sportministerium und dessen Behörden, mit dem Moskauer Kontrolllabor und Russlands Inlands-Geheimdienst FSB gemeinsame Sache gemacht.

Was wird den Russen konkret vorgeworfen?

Neben dem Doping an sich prangern die Ermittler vor allem das System dahinter an. Positive Dopingproben seien zwischen 2011 und 2015 gezielt manipuliert worden, das Vorgehen dabei sei im Laufe der Zeit immer weiter professionalisiert worden. Auch nach den erfolgreichen Heim-Spielen in Sotschi, durch die Russlands Führung den Status des Landes als stolze Sportmacht glanzvoll untermauern wollte, sei der Betrug fortgesetzt worden. Im Moskauer WADA-Kontrolllabor sei der Austausch von Dopingproben russischer Sommer-, Winter- und Behindertensportler zur «monatlichen Praxis» geworden, um positive Tests und damit einhergehende Dopingsperren zu umgehen.

Welche Großereignisse sind betroffen?

Mutmaßlich die meisten großen Sportevents zumindest im Zeitraum zwischen 2011 und 2015. McLaren erwähnte beispielsweise die Olympischen Sommerspiele 2012 in London, die Leichtathletik-WM 2013 in Moskau und die Olympischen Winterspiele in Sotschi 2014. Neue Namen mutmaßlicher Betrüger nannte er nicht.

Auf welche Basis stützen sich die Anschuldigungen?

Die Ermittler haben nach eigenen Angaben zahlreiche Interviews mit Zeugen sowie Datensätze, E-Mails und über 4000 Excel-Dokumente ausgewertet. Und dennoch scheinen die ersten Erkenntnisse erst die Spitze zu sein. «Das Bild ist noch nicht komplett. Wir hatten nur Zugriff auf einen kleinen Teil der Daten und des Beweismaterials, das möglicherweise existiert», sagte McLaren.

Wie bewertet die WADA die eigenen Ergebnisse?

Chefermittler McLaren bezeichnete Russlands Dopingsystem als «institutionelle Verschwörung» und urteilte mit Blick auf die Sommerspiele 2012 in London ungeachtet nachgewiesener Dopingpraktiken beispielsweise in der DDR: «Das russische Team hat die Spiele von London in einer Weise korrumpiert, die nie dagewesen ist.» Die russische Sehnsucht nach Medaillen sei stärker gewesen «als der kollektive moralische Kompass».

Was sind die Folgen des Reports?

Das ist die große Frage, die letztlich nur das Internationale Olympische Komitee unter Führung des deutschen Präsidenten Thomas Bach beantworten kann. Will das IOC Glaubwürdigkeit und verbliebene Reputation nicht gänzlich gefährden, dürfte es um harte Sanktionen nicht herum kommen. Die Frage, ob die Russen nun mit einem Komplett-Bann für die Olympischen Winterspiele 2018 in Pyeongchang rechnen müssen, stellt sich automatisch. Für Rio im August waren nach dem ersten McLaren-Bericht jene Russen zugelassen worden, die glaubhaft nachweisen konnten, nicht Teil des Dopingsystems gewesen zu sein. Das IOC hatte die Einzelfallprüfungen seinerzeit an die internationalen Sportverbände delegiert, die ihrer Verantwortung unter erheblichem Zeitdruck allerdings kaum nachkamen.

Wie fallen die internationalen Reaktionen aus?

Meist harsch. DOSB-Vorstandschef Michael Vesper bezeichnete die Enthüllungen als «Hammer» und wollte einen Komplett-Bann des Landes für Olympia 2018 nicht ausschließen. McLarens Bericht treffe «direkt in das Herz von Integrität und Ethik des Sports», urteilte das Internationale Paralympische Komitee. «Die neuen Fakten des Abschlussberichtes machen uns sprachlos», sagte Andrea Gotzmann, Vorstandschefin der deutschen Anti-Doping-Agentur NADA. Aus Moskau kamen gereizte Reaktionen. «Wo sind die Beweise und die Zeugen?», fragte Michail Degtjarjow, Chef des Sportausschusses in der Staatsduma, ungeachtet der erdrückenden Indizienlage.


(dpa)

(dpa)